Berlinale 2020: Effacer l’historique (Delete History) – Der Traum vom Neuanfang
ein Beitrag von Felix Ernesto Hück
Mirandas Call-Center-Computer-Stimme auf Mauritius macht Bertrant (Denis Podalydès) scharf. Aber Betrants Anfragen bei Facebook wegen des Cyber-Mobbings das seiner Tochter in der Schule erleidet bleiben unbeantwortet. Beschweren bei Google will sich auch Marie (Blanche Gardin), höchst persönlich sogar, denn ihr jugendlicher One-Night-Stand erpresst sie mit einem Sextape. Und Christine (Corinne Masiero) möchte so sehr mehr Sterne in ihrer Bewertung als Fahrerin für den Fahrtdienstvermittler Star-VIP.

“Le futur ne me fait pas rire du tout”
Blanche Gardin
Benoit Délépine und Gustave Kervern präsentieren in Effacer L’historique die Verlierer der Online-Gesellschaft: alt, einsam und verschuldet. Die Gewinner leben im Verborgenen, verschanzt hinter Server-Farmen, und die Aussteiger bewohnen Windräder und zapfen Strom für’s Bitcoin-Mining. Keine Ahnung was Bitcoin-Mining ist? Dann ist Effacer L’historique der richtige Film um es dort auch nicht zu erfahren.

FAZIT
Der Film lässt nichts erdenkliche aus, was vor allem auch Erwachsenen über 50 im Internet widerfährt: Vom One-Night-Stand mit Sexvideo erpresst, als online-Jobber mit zu wenig Sternen bewertet, das Wohnzimmer des Eigenheims wird stundenweise als Gebetsraum vermietet, den irgendwie wollen die vielen Rechnungen bezahlt werden. Die gerade gekauften Möbel stehen schoch auf der Terrasse zum Verkauf, denn die Schulden in der virtuellen Welt gemacht, müssen in der realen Welt getilgt werden. Es sind nicht mehr die schmuddeligen Internetangebote wie Pornos, Glücksspiel oder illegale Downloads, nein. Es sind vielmehr die etablierten Online-Anbieter, von Online-Preisvergleich bis Job-Plattform, die Monster, die jede Schwäche ihrer Nutzer kennen und gezielt ausnutzen um sie auszusaugen. Da hilft es wenig die gelbe Weste anzuziehen und sich auf die Insel eines Kreisverkehrs zu retten oder auf das Autodach zu klettern und sich die Seele aus dem Leib zu schreien.

Die Figuren -alles in der Komödie etablierte Darsteller- überzeugen, genau so wie das Konzept: Es ist ein Film für Menschen die die Welt nicht mehr verstehen und auch nicht mehr verstehen wollen. Das ist nicht komisch, sondern tragisch und verdient den Silbernen Bären. Mancher Mensch unter 35 wird seine Eltern wiedererkennen. Aber die Welt die in Effacer L’historique dargestellt wird, ist eine Welt in der heute viele Menschen leben und außerhalb derer sie wohl kaum mehr zu atmen vermögen. Antworten bietet der Film keine, geschweige denn die passenden Fragen.
Effacer L’historique hat — soviel ist gewiss — auf ARTE.tv seine Zielgruppe schon jetzt sicher.
Um es mit ARTEs Professeur Moustache zu sagen: Anstatt euch Effacer L’historique anzusehen und euch bei Facebook, Google und Co. zu beschweren, schaut euch lieber The Cleaners von Hans Block und Moritz Riesewieck an, da lernt Tagalog und jene kennen, die täglich mindestens 20.000 mal am Tag entscheiden müssen, was geteilt werden darf und was nicht, aber was soll’s, sterben müssen wir alle mal.