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Berlinale preisgekrönt: Walchensee Forever – der neue Heimatfilm

ein Beitrag von hFMA Netzreporterin Tina Waldeck

Ein kleines Kind, verkleidet als Elfe, erzählt vor der Kamera, dass sie Angst hat im Dunkeln. „Warum?“ fragt die Stimme der Mutter aus dem Off. Wegen Frauke. Denn die ist tot.

So beginnt Walchensee Forever von Filmemacherin Janna Ji Wonders

von links nach rechts: Janna Ji Wonders, Norma und Anna Werner 
Walchensee Forever | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film
von links nach rechts: Janna Ji Wonders, Norma und Anna Werner
Walchensee Forever | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film

Die Regisseurin ist es selbst, die hier, noch als kleines Kind, vor der Kamera sitzt. Dann tauschen Mutter und Tochter die Rollen. Familiengeschichten. Das „Café Bucherer“ der Familie Werner – ein offenes Haus. Das Hoheitsgebiet der Frau, der Uroma, war die Küche. Eine Wirtin aus Leib und Seele; immer perfekt angezogen.

Deren Tochter Norma Werner, die Oma der Regisseurin, wuchs hier auf und traf auf ihren späteren Mann, einem norddeutschen Kunststudenten, der dort Urlaub machte. Viele Geschichten sind von ihm aufgeschrieben und bebildert worden. Später brachte er seinen zwei Kindern den Umgang mit Film- und Fotokameras näher: Die junge Frauke ist die wilde, die ältere Anna immer die Aufpasserin. Nachdem er jedoch in den Krieg musste, kam er verändert und verwundet wieder. Und während seine Frau immer mehr, wie selbstverständlich das Restaurant übernahm, trennte er sich und zog nach München.

Anna und Frauke verarbeiten ihre Sorgen auf ganz unterschiedlicher Weise, wenn auch auf gemeinsamen Wegen: Die wilde Frauke lief aus dem Internet oft weg, besuchte ihren Vater und landet schließlich überraschenderweise im heimatlichen Trachtenverein, wo sie mit großem Erfolg das Jodeln anfängt. Die beiden Schwestern gründeten schließlich eine eigene Gruppe, die sie sogar bis nach Mexiko führt. Alte Zeitungsausschnitte und Tonbandaufnahmen. Die beiden Frauen sind von Mexiko und den vielen geheimnisvollen Ritualen fasziniert.

von links nach rechts: Frauke und Anna Werner 
Walchensee Forever | Janna Ji Wonders | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film
von links nach rechts: Frauke und Anna Werner
Walchensee Forever | Janna Ji Wonders | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film

Von dort geht es für die beiden weiter nach Kalifornien, zu den wilden 60ern, das noch für alle Möglichkeiten offen ist. Freiheit. Ungebundenheit. Frauke geht in dieser Szene auf. Auch das Thema Drogen wird thematisiert: auch hier ist Frauke die wildere. Die brave Tracht verschwindet. 

Der Blick in die Gegenwart auf Annas Gesicht in Großaufnahme, wie sie mit den Tränen kämpft. Das Gewitter über dem See lenkt die Emotionen um, wie es wohl schon viele Male davor passiert ist.

Als die beiden zurück zum Walchensee kommen, müssen sie ihren Platz in der bayrischen Spießigkeit erst wiederfinden. Frauke versucht eine Beziehung zu einem Adligen. Doch sie hat nie einen Orgasmus mit ihm und ist unzufrieden. Enttäuscht wendet sie sich anderen zu, wird schwanger und hat eine Abtreibung. Dann lernt sie Rainer Langhans kennen und verliebt sich. Der Begriff HAREM wird irgendwann, auch wie ein Bandname, von der Öffentlichkeit übernommen. Offene Liebe. Anna Werner ist ebenfalls dabei. Doch Frauke wird immer öfters manisch. Verbreitet wilde Thesen, spirituelle Muster und zieht sich in der Öffentlichkeit nackt aus. Schließlich kommt sie mit einer akuten Schizophrenie in eine geschlossene Einrichtung. Anna ist da, als sie sie braucht. Doch nachdem ihre Schwester wieder aus der Klinik entlassen wird, fährt sie alleine nach Mexiko City, wo sie den Vater der jetzigen Filmemacherin kennenlernt. Beide reisen nach Griechenland, um fünf Wochen nackt in einer Höhle zu leben.

Walchensee Forever | Janna Ji Wonders | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film
Walchensee Forever | Janna Ji Wonders | Perspektive Deutsches Kino 2020 | © Flare Film

Frauke klammert sich in dieser Zeit am Walchensee an Meister Kerpal Singh und spirituellen Thesen. Am Abend von Silvester 1974/75 steigt sie mit einem Porträt von ihm ins Auto und fährt gegen einen Baum. Sie stirbt. Anna Werner erfährt diese Nachricht erst lange nach der Beerdigung. Sie wird in der Zwischenzeit schwanger. Und auch wenn sich die beiden jungen Eltern kurz nach der Geburt trennen – einsames Meditieren und Kindergeschrei passen dann doch nicht so recht zusammen – so bleiben beide doch in Kontakt. Nun zieht auch Anna zurück an den Walchensee.

Die Eine scheitert an der Heimat, die andere findet sie: in sich. Und daheim?

Lange Filmaufnahme von dem Nebel über dem Wasser. Alte 16 mm-Aufnahmen von der Oma, die Tücher glättet. Der Betrieb in dem Restaurant geht unabänderlich weiter. Selbst im hohen Alter arbeitet Norma Werner konsequent: Wo für den einen die Freiheit ist, da liegen für den anderen Verpflichtungen. Oft kommt es zum Streit zwischen Oma und Mutter Anna, während nun die Tochter filmt. Auch die Tränen der Oma, wenn alles zu schwer wird. „Wenn ich noch einmal zwanzig wäre, dann würde ich Computer Freak werden“ schimpft sie. Unerfüllte Träume, die in der Vergangenheit keinen Raum hatten, um ausgelebt zu werden. Vielleicht verstehen sich Enkelin und Oma deshalb so gut, weil die jüngere machen kann, was sie möchte? Sie dreht Musikvideos, in denen ihre Oma mitspielt. 88 Jahre ist diese da schon. Sie wird 104 Jahre alt werden …

Aber der Film endet nicht nur mit ihrem Tod. Sondern auch wieder mit einer erneuten Schwangerschaft, nämlich der, der Filmemacherin. In Kalifornien reitet das heranwachsende Kleinkind auf den Knien des Opas und spielt mit Neu-Oma Anna am Walchensee. Die nächste Generation Frau, die sich in diesem geschichtsträchtigen Fundament zurechtfinden muss.

Janna Ji Wonders bei der Preisverleihung auf der Berlinale 2020 | © Daniel Seiffert

Walchensee Forever lief als Weltpremiere in der hervorragend ausgewählten Berlinale Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ und hat hier den Kompass-Perspektive-Preis als bester Film gewonnen. 

Der Schwerpunkt dieser Sektion lag auf der aktuellen Aufarbeitung des Wortes „Heimat“. Wie die Leiterin der Perspektive sagte: „(…) Heimatfilme, nicht als Verklärung im romantisch kitschigen Stil der 50er Jahre, sondern als Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben.“ Bei dem Film von Janna Ji Wonders (bei dem schon ihr Name in dieser Hinsicht interessant ist) steht nicht nur die Ästhetik im Vordergrund, sondern die thematischen Inhalte, die sorgsam und gut aus den familiären Archiven zusammengestellt und mit aktuellen, von ihr selbstgedrehten, Aufnahmen ergänzt und erweitert wurden. Damit stellt sie subtile Beziehungen zu dem Thema Verbundenheit, sowohl mit Menschen und mit Orten, als auch zu dem Thema der Angst und Abhängigkeit her.

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