Beitrag von Tina Waldeck
DER Eröffnungsfilm der B3 Biennale
Ut og stjæle hester | Pferde stehlen (2019) OmU
Der Film beginnt ruhig und poetisch. Plätscherndes Wasser. Nebel. Die Kamera, die von einer Idylle mit einer kleinen Hütte im Grünen aus der Vergangenheit in die Gegenwart schwenkt: Schatten und Dunkelheit. Kälte und Einsamkeit.
Trond Sander, 67, ist hier in eine abgelegene Hütte gezogen. Wir beobachten, wie er sein Auto von den Schneemassen befreit. Beim Fahren damit kommt ihm später ein Lastwagen entgegen und nur knapp entkommt er einer Katastrophe. Eine Katastrophe, die schon einmal geschehen ist: Vor Jahren starb bei einem Autounfall seine Frau. Aus diesem Grund wollte er aus Oslo weg und alles hinter sich lassen. Doch die Erinnerungen kommen immer wieder hoch. Das nahe, in warmen Farben gehaltene Gesicht der Frau. Innig und geborgen. Und die Vergangenheit, die im Laufe des Films, immer wieder in seinen Träumen und Erinnerungen erscheinen wird. Die vergangene Wärme wird nun überdeckt von Schnee und Eis.

Hier begegnet er Lars Haug (mit g), seinem Nachbarn hier oben, den er als einen alten Bekannten aus der Kindheit wieder erkennt. „Lars ist Lars“, so ist sich Trond sicher, auch wenn es anfangs noch nicht ausgesprochen wird. Im Sommerurlaub 1948 traf er diesen, als er seinen Vater in einer kleinen Hütte im Wald besuchte. Damals war er 15 Jahre alt.

Der Zuschauer erlebt es in nun immer wieder aufkommenden Rückblenden. Hier überragt die Natur. Der grüne Wald und die Felder am Fluss. Die intensiven Geräusche. Ameisen. Das Summen der Bienen. Ein guter Freund von ihm war der ältere Bruder von Lars: Jon. Die Freunde waren oft „Pferde stehlen“. Unsinn machen und zusammen Abenteuer erleben. Doch eines Tages war alles nicht mehr so wie sonst. Jon hatte sein Gewehr nicht dabei. Er war abwesend. Verzweifelt. Ein Sturm bricht los, der die Idylle streift. Die Geräusche werden noch intensiver. Der prasselnde Regen. Der Wind. Rückblende in der Rückblende. Die Geschwister von Jon, Odd und Lars, die in der Hütte spielen und dabei Jons Gewehr nehmen. Ein Schuss.

Ein fassungsloser Vater legt den toten Jungen auf das Bett und deckt ihn mit einem Tuch zu. Wie fühlt es sich an, das Ende? Trond versucht, es zu fühlen. Neben ihm: Ein junger, verzweifelter und schuldbewusster Lars. Und Jon, der danach einfach verschwinden und zur See fliehen wird.

Danach wird Jons Mutter ein immer wiederkehrender Blickpunkt in der Geschichte: Denn sie und ihr Mann helfen jetzt oft zur Ablenkung Tronds Vater beim Baumfällen. Dramatische Musik beim Einschlagen des Holzes. Sexuelle Andeutungen. Trond, der sich, noch unwissend, das erste Mal verliebt. Nachts hat er „feuchte Träume“: Jons Mutter rudert mit nassen Oberschenkeln stöhnend im Boot. Die Frau, die alles spaltet (auch die Rinde vom Baum). Wieder die Geräusche eines Gewitters. Und ein verhängnisvoller Unfall, als Jons Vater durch Tronds Vaters Unachtsamkeit schwer stürzt. Schmerzverzerrtes Gesicht, kehlige Geräusche. Er wird weggefahren und von da an nicht mehr gesehen. Ein Leben für das Leben des anderen? Sein Platz ist nun frei. Schnell gehen Tronds Vater und Jons Mutter einen gemeinsamen Weg. Sehr zum Verdruss des jungen Tronds: Denn am Ende des Sommers wird sein Vater nicht mehr mit ihm zu seiner Mutter zurückkehren.
In der Gegenwart sinniert Trond, wie das Leben eines anderen Menschen auf einen abfärben kann. Wie es prägt und man damit vielleicht zu einem Menschen wird, welcher man nicht sein möchte. Erst jetzt erzählt Lars ihm, dass er, nachdem Jon das Haus verlassen hatte, dessen Platz einnehmen musste. Wie er mit Jons Gewehr einen Hund erschießen musste. Wie er in seine Rolle hineingewachsen ist. Aber dann kam Jon wieder, als er 20 Jahre alt war, und übernahm: den Hof, das Zuhause, das Gewehr. Und diesmal ging Lars. Hierher. Er hat sie alle danach nie wieder gesehen. Genau wie Trond …
Fazit
Jeder Mensch entscheidet selbst, welchen Lebensweg er einschlägt und wo es ihm wehtut? Die abschließende Ironie dieser Feststellung von Trond ist: das keiner in diesem Film eigentlich bewusst etwas entscheidet. Jeder lässt sich treiben auf seinem Weg und nimmt die Dinge, die ihm begegnen einfach mal mehr oder mal weniger gut an. Nun könnte man in der filmischen Darstellung der Inhalte auch einfach einiges annehmen, was doch zu bemängeln wäre: So fällt die Darstellung der Frau in einigen Szenen doch recht unangenehm auf, wenn sie nur noch als ein Lustobjekt inszeniert wird, deren Schwerpunkte in ihrem blauen, halbtransparenten, kurzen Kleid und den halb-animalischen Bewegungen liegen. Und der Mann, der Starke, der die Pferdestärken kontrolliert und bändigt? Die Rollenbilder sind, in ihrer Idylle, ein bisschen zum Verzweifeln und nicht unbedingt mehr zeitgemäß.

Die Inszenierungen sind lustvoll und in ihrer Ästhetik herausragend, was auch an der hervorragenden und feinfühligen Kameraarbeit von Rasmus Videbæk liegt, welcher zu Recht dafür mit einem silbernen Löwen gewürdigt wurde. Aber zwischen den ganzen sensiblen Nuancen in der Inszenierung, im Farbschemata und in der Lichtstimmung, sowie einer herausragenden Abmischung der Geräusche und der Musik: In den Bemühungen, die vielen kleinen und liebevollen Details der Romanvorlage von Per Petterson gerecht zu werden, geht leider der Fokus ein bisschen verloren, der am Ende einen Unterschied macht, welche Gefühle dem Zuschauer weitervermittelt werden sollen. Hier entscheidet auch jeder Film, welchen Weg er gehen will und wo es wehtut.
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