Vom 15. bis 20. Oktober 2019 präsentierte sich die B3, die Biennale des bewegten Bildes, erstmals auf der Frankfurter Buchmesse. Neben einem umfangreichen Kinoprogramm war das Herzstück die Leitausstellung „Realities“ in Kooperation mit THE ARTS+ Future of Culture Festival, die spannende neue Erzählformate u.a. aus den Bereichen Film und VR zeigte.
Die Nähe zur Buchmesse scheint nicht von ungefähr zu kommen, suggeriert sie doch, es gebe die eine Königsklasse des Erzählens nicht mehr. Man muss sich bewusst machen, dass die Art zu erzählen über die Jahrtausende stets Wandlungen unterworfen gewesen ist: von der mündlich vorgetragenen Geschichte über die Schrift bis hin zum Bewegtbild. Die B3 gibt einen Einblick in die vielen möglichen Formen, des Schaffens neuer Realitäten über ihr Kinoprogramm und die Leitausstellung, zu der nicht nur zahlreiche Videoinstallationen und Angebote wie interaktive Webserien und -dokus zählen, sondern ebenso Möglichkeiten von Gamification:

Videospiele sind mittlerweile zu einem ernstzunehmendem Medium mit vielfältigen Möglichkeiten des Storytelling und gewaltiger immersiver Kraft geworden und dies macht auch vor dem kleinen Bildschirm von Smart Devices nicht Halt: „Luther – Die Reise“ von Unger & Fiedler etwa kombiniert Gameplay und Storytelling, um dem User einen historisch korrekten Einblick in das Leben und Wirken des Reformators Martin Luther zu vermitteln. 1521 weigerte sich dieser, auf dem Wormser Reichstag seine Thesen zu widerrufen, woraufhin die Reichsacht über ihn verhängt wurde. Das Spiel inszeniert Luthers Flucht vor seinen Verfolgern hin zur schützenden Wartburg als eine Mischung aus „Die Sims“ und dem Treffen moralischer Entscheidungen. Der Spieler muss einerseits die menschlichen und seelischen Bedürfnisse von Luther und seinen Begleitern permanent im Blick haben, andererseits müssen unterwegs Begegnungen mit anderen Personen gelöst werden, auch auf die Gefahr hin, dass sich der Abstand zu den Verfolgern dramatisch verringert.

Die immersiven Erlebnisse und alternativen Realitäten des anschließenden VR-Parks hingegen laden dazu ein, sich seine eigene Geschichte zu schaffen. In „-22,7“ von Jan Kounen kann man sich der Unwirklichkeit des Polarkreises hingeben und die Kombination von Farben, Formen und Musik auf sich wirken lassen. So schreibt sich im Kopf eine eigene Geschichte fort. Andere Angebote geben spannende Einblicke in bislang unbekannte Lebenswelten und -wirklichkeiten und ermöglichen das Schauen über den Tellerrand. Ein besonders eindrückliches Erlebnis ist „Gymnasia“ von Chris Lavis und Maciek Szczerbowski. Man nimmt auf einem Drehstuhl Platz, setzt die VR-Brille auf und versinkt in einer unwirklichen, gespenstischen Welt. Langsam schälen sich die Wände eines verrotteten und seit langem aufgegebenen Ortes aus der Dunkelheit heraus. Von links fällt trübes Licht durch die Fenster knapp oberhalb der Decke. Eine alte Schulturnhalle, in der anscheinend seit Ewigkeiten kein Sportunterricht mehr gegeben wurde; auf dem abgenutzten Holzboden liegen ein paar Basketbälle, dazwischen Laub, vor Kopf hängt der einsame Basketballkorb, dahinter eine Bühne, im Halbdunkel sind die Umrisse eines Klaviers auszumachen. Plötzlich ein Geräusch von rechts, ruckartig fährt man herum, und die Tür an der Seitenwand, die gerade noch geschlossen war, steht jetzt offen und gibt den Blick in den dahinterliegenden Flur frei. Bewegungen sind auszumachen, etwas huscht zwischen den Räumen hin und her … Im nächsten Moment bewegen sich die Basketbälle, fahren hoch und schlagen laut vernehmlich auf den Hallenboden, werden schneller und springen immer höher, werden gedribbelt von den Erinnerungen an die Kinder, die einst diesem Ort Leben verliehen haben. An dieser Stelle noch mehr zu verraten, würde heißen, andere um ein einmaliges Erlebnis zu bringen.
„Gymnasia“ ist Paradebeispiel dafür, zu welch spannenden Erlebnissen VR bereits in der Lage ist und was man in Zukunft von dieser Technik wird erwarten können. Das Storytelling ist dabei einfach, aber effektiv und funktioniert mit wenigen Figuren und ohne Dialoge – entscheidend ist vor allem der Nutzer und das, was im Zuge des Betrachtens (und noch längere Zeit danach) im eigenen Kopf abspielt; wie man über die Geschichte dieses Ortes und die irritierenden Geschehnisse, die einem in rund sechs Minuten in dieser alternativen Realität widerfahren, nachsinnt. Zu hoffen ist, dass der Film in den kommenden Jahren immer mehr diese äußerst spannenden Möglichkeiten des Erzählens wahrnehmen wird. Auf der B3 zeigt sich, dass VR längst das Potenzial zu mehr als eindrucksvollen Tech-Demos und den aufregenden, aber oberflächlichen Reiz des Neuen hat. Wiederum trifft dies auf den Bereich Gaming zu, wo VR längst auf dem Vormarsch ist. Das Interesse des Publikums ist groß: Am Stand der Hochschule Darmstadt muss man nur das Headset aufsetzen und zwei Joysticks in die Hand nehmen und kommt aus dem Spielen gar nicht mehr heraus, während Umstehende das Geschehen wie gebannt auf einem Monitor verfolgen. Dass wir uns durch die neue Technik mittlerweile eine Vielzahl alternativer Realitäten schaffen können, zeigt auch Stefan Weil vom Frankfurter Atelier Markgraph in seinem Vortrag „Get real. What does reality mean today?“ eindrucksvoll.


Aber auch abseits neuer Technologien ist die Zukunft des Erzählens Thema einer Reihe verschiedener Podiumsgespräche und -diskussionen. Filmemacherinnen wie Grace Glowiciki, die auf der B3 ihren Film „Tito“ präsentiert, und Pier Nirandara diskutieren über den aktuellen Stand von Frauen in der Filmindustrie. Auch hier zeigt sich, dass die Art und Weise, wie und wovon Filme erzählen, in Zukunft noch Veränderungen unterworfen sein wird, denn bislang sind es vor allem noch die Männer, die Filme schreiben und inszenieren. Doch die Filmemacherinnen sind sich ihrer Verantwortung gerade dem weiblichen Publikum durchaus bewusst und dass es gilt, wegzudenken vom weißen Mann um die Vierzig als typischem Zuschauer. In weiteren Vorträgen wie „New Stories: The Future of Storytelling in all Media Formats“ und „New Fomats: Media Experts Discuss the Future of Creative Output“ zeigt sich hingegen, dass in unserer schnelllebigen, digitalisierten Medien- und Social-Media-Gesellschaft die Art, wie Geschichten erzählt werden und wie diese inszeniert, produziert und promotet werden, aufgrund der heutigen Technologie zahlreichen Veränderungen unterworfen ist. Aber auch, wie und auf welchen Medien wir diese Geschichten konsumieren, verändert sich stetig. Film ist längst nicht mehr nur Kino, Film ist auch Netflix und Co. oder sogar ein paar Nummern „kleiner“: Film ist auch der dreiminütige Inhalt, den wir uns in der U-Bahn auf dem Bildschirm unseres Smartphones ansehen. Auch wenn unklar ist, wohin all diese Entwicklungen in Zukunft nun konkret gehen werden, festhalten lässt sich, dass Storytelling nach wie vor die Kombination aus Storys und Emotionen ist, d.h. die Dinge, die uns berühren und uns als menschliche Wesen ansprechen, sind immer noch vor die gleichen: Es besteht immer noch Bedarf an fesselnden Geschichten und Charakteren. Wer medial gesehen immer nur am gleichen interessiert ist und sich auch – etwas platt gesagt – mit Netflix auf der Couch zufriedengibt, für den ist das Angebot der B3 vermutlich eher wenig geeignet. Die Kunst, die hier präsentiert wird, regt dazu an, neue Sichtweisen einzunehmen, sich aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu stellen und sich auf die Möglichkeiten des bewegten Bildes voll einzulassen. Das ist durchaus herausfordernd und nicht immer einfach, spannend ist es allemal. Und dass es ein Publikum für diese Art von Stoffen und Möglichkeiten des Erzählens gibt, zeigt sich anhand der Besucher, die die Leitausstellung offen annehmen.